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Hurra, wir dürfen zahlen!

Es ist schon wieder ein paar Monate her, dass ich „Hurra, wir dürfen zahlen – Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ von Ulrike Herrmann gelesen habe. Darauf aufmerksam geworden bin ich über den Spiegel, der im April einen Gastkommentar veröffentlicht hatte – und beim Lesen desselben klappten mir schon die Zehnägel hoch – das ist doch viel zu links für den Spiegel! Normalerweise werden solche Autoren dann vom Spiegel zu ihren Büchern befragt, mit Fangfragen eingedeckt und nach Möglichkeit lächerlich gemacht – denn der Spiegel ist ja schon lange kein linkes Blatt mehr. Haben wir überhaupt noch irgendwas im Lande, was wirklich links ist? Die SPD jedenfalls ist es nicht, die Grünen nur noch in vereinzelten Idealisten, und bei der „Linken“ wird mir vom Populismus schon schlecht, noch bevor ich dazu komme, mich mit irgendwelchen Inhalten auseinanderzusetzen (deren Existenz ich trotzdem erstmal annehme).

Doch voran, zum Buch. In 20 knappen und knackigen Kapiteln, die dazu noch in sehr lesbarem, schnörkellosem Deutsch mit kaum Druckfehlern geschrieben sind, wird gezeigt, wie die Mitte sich vor den Karren der Oberschicht spannen lässt, fast durchgehend gegen ihre eigenen Interessen wählt, sich selbst immer mehr aufbürdet und die Reichen reicher macht, und alles nur, um sich von den Armen abzugrenzen. Nach der Einleitung ist das Buch gegliedert in die Teile „Die Macht der Eliten“ (Lesetip: wie der Adel es anstellt, nach wie vor unter sich und an der Macht zu bleiben), „Die Irrtümer der Mittelschicht“ (besonders lesenswert das Kapitel über Vornamen und private Schulen: wie die Mittelschicht sich abstrampelt und doch außen vor bleibt), „Die Verachtung für die Unterschicht“ (über Vorurteile gegen angeblich sozialbetrügende Arbeitslose), „Die Kosten des Selbstbetrugs“ (wie Regierung auf Regierung den Reichen fette Geschenke macht und der Wähler sich nicht wehrt, weil er sich selbst auch fast schon reich wähnt).

Dazu gibt es eine immerhin fast 40 Seiten lange Liste von Fußnoten und Kommentaren, wo reichlich Belege zu finden sind für Dinge, die wir eigentlich schon immer geahnt haben: der soziale Aufstieg ist schwierig und selten; der Abstand zwischen arm und reich vergrößert sich weiter, auch wenn die meisten Superreichen sehr unauffällig bleiben; den Industriebossen (Arbeitgebern) lassen wir vieles durchgehen, was Politiker sich nie erlauben könnten; aufstrebende Eltern versuchen ihre Kleinen inzwischen derart früh zu Universalgenies heranzuzüchten, dass von der Kindheit nicht mehr viel übrig bleibt; die Reallöhne sind in den letzten zehn Jahren gefallen, während die Profite sich prächtig entwickelt haben; die Mittelschicht ist gegen die Erhöhung des Hartz-IV-Satzes, weil die Arbeitsscheuen/-losen sich davon ja doch nur ein schönes Leben machen; die Fahndung nach Schwarzarbeit kostet viel mehr Geld als die Schwarzarbeit selbst; die Kosten der Finanzkrise trägt die Mittelschicht, während die Besitzenden (im übrigen auch die Verursacher der Krise) nicht nur gerettet worden sind, sondern jetzt sogar an den Folgen verdienen – und so weiter. Und ironischerweise sind die meisten dieser Entwicklungen von den sogenannten Sozialdemokraten angeschoben worden.

Also, wenn man sich dagegen den oberflächlichen, merkantilistischen Sermon des Herrn Steingart anguckt, packt einen nicht der Zorn, sondern eher die Begeisterung über das hier besprochene Buch, das ganz von der anderen Seite kommt und mit klarem Denken die Dinge auf den Punkt bringt – da weiß man hinterher, was man gelesen hat, und freut sich, dass die Geldwechsler endlich mal wieder die Peitsche bekommen haben.

Mir ist bei dieser Lektüre klar geworden, was mich im Augenblick stört an der Welt (denn nicht nur die deutsche Gesellschaft ist in dieser Hinsicht verblendet): alle reden immer nur von der Wirtschaft – aber die hat der Mensch geschaffen, damit es ihm besser gehe. Doch irgendwie hat das einstige Helferlein sich inzwischen zum geifernden Monster entwickelt, für dessen weiteres Wachstum wir außerdem alles tun würden. Das stellt inzwischen niemand mehr in Frage, und das ist falsch. Das Leben muss mehr zu bieten haben als Produktivitätssteigerungen und Sonderangebote am verkaufsoffenen Sonntag. Wir brauchen wieder eine streitbare (und politisch gebildete!) linke Perspektive. Und wenn die Oberschicht so weitermacht, ist das auch nur noch eine Frage der Zeit – auch wenn dank Funk, Fernsehen und Weltnetz die Gedankenkontrolle derzeit besser funktioniert als je zuvor und Zeitungen und Radiosender mit der Wiedergabe illusionsbrechenden Materials äußerst wählerisch sind.

Also, wenn ihr mal wieder irgendwo so was lest wie „arm ist reich, reich ist arm“, dann fragt euch mal, ob das soviel bedeutet wie „schwarz ist weiß“ oder „Krieg ist Frieden“ – nämlich freche Propaganda, von der kein Wort wahr ist – dann fragt euch: wem nützt sowas – und dann fragt euch: warum steht sowas in der Zeitung oder in bekannten Wochenblättern, wer steckt dahinter? Auch und gerade in einer Mediendemokratie ist eigenes Denken und ggf. Nachforschen durch nichts zu ersetzen.