#1: Infopost
Hallo Leute,
hier kommt eine Infomail an alle, die ich in den letzten Tagen peu à peu gebastelt habe. Sie ist z.T. wiederverwertet, d.h. ich habe sie schon mal verschickt. Ich hoffe aber, ihr fühlt euch durch zeitlich-inhaltliche Inkonsistenzen weniger gestört als durch die Länge (nicht Längen, will ich doch hoffen) verwöhnt.
Also: die Gegend hier ist viel städtischer, als ich dachte! Es gibt nur noch wenige freie Flächen, und ganz in der Nähe ist ein Riesen-Einkaufszentrum. Mag sein, daß Irvine selbst nur 200000 Einwohner hat, aber es grenzen etliche andere Städte direkt an, und das ganze ist ein Riesen-Ballungsraum, ich denke, immer noch Vorstadt von Los Angeles. Allerdings ist alles sehr großzügig geplant, viel Grünflächen (die allerdings jeden Abend gewässert werden müssen, aber neuerdings mit Brauchwasser) und viel Himmel zu sehen. Aber mal auf eine kleine Radtour ins Grüne, das geht aus mindestens zwei Gründen nicht so gut: erstmal ist das ein weiter Weg, und zum anderen ist das Grüne eher gelb zu dieser Jahreszeit. Jim meint, ich würde wohl in den drei Monaten, die ich erstmal hier bin, keinen Regen erleben. Ist auf der einen Seite ja schön, auf der anderen Seite aber wäre hier nur Wüste (und sie ist auch nicht weit), wenn’s die Bewässerung nicht gäbe.
Das Wasser übrigens ist gechlort, was beim Duschen ziemlich nervt; und auch Springbrunnen riecht man schon von weitem. Man kann sich wohl dran gewöhnen, aber die Rosen, die ich mir in Leitungswasser auf den Nachttisch gestellt habe, sind schon ziemlich ausgebleicht von dem Chlor; und das ist mir schon ein bißchen unheimlich.
À propos Zimmer: ich wohne derzeit in Jims Hologramm-Museum; an der Decke ist eine ganze Batterie von Halogenstrahlern angebracht und immer wenn ich das Licht einschalte, bin ich von diversen Gestalten umgeben.
Aber eigentlich halte ich mich in dem Zimmer auch nur zum Schlafen auf. Über den Flur ist ein Gäste-Badezimmer mit viel Platz; die Dusche nervt, weil man die Brause nicht verstellen kann; und wie gesagt, das Wasser…(Kaffee wird immer mit gefiltertem Wasser gemacht.) Im Grunde habe ich hier einen Flügel des Hauses für mich. Das Klo neigte erst zum Verstopfen (sagte man mir, gemerkt hab ich davon nichts) und als am Unabhängigkeitstag Jims Söhne hier waren, um im Garten zu helfen und sich eine Handvoll Dollars zu verdienen, hat einer das Klo gegen ein neues getauscht; die alte Kloschüssel steht jetzt im Garten auf der Terrasse (stört aber nicht, da man sich hier ohnehin nicht draußen aufhält, und wenn, dann nicht in der Sonne). Jetzt muß nur noch das Garagentor ausgewechselt werden, und schon ist das Haus technisch wieder fit. Der Garten übrigens ist ziemlich klein; das hat mich etwas gewundert. Immerhin steht in einer Ecke ein kleiner Orangenbaum; und ein Tomatenstrauch steht daneben, weil die Supermarkt- Tomaten in den letzten Jahren zu besorgniserregender Größe angewachsen und Jim damit unheimlich geworden sind.
Daß ihr ziemlich schlechtes Wetter habt in Deutschland, habe ich nun schon von mehreren Seiten gehört – muß ja richtig arg kalt sein!? Das Klima hier ist kaum zu übertreffen: vormittags bewölkt, ca. 18 Grad, mittags lösen die Wolken sich auf und die Temperatur steigt auf ca. 23-25 Grad, den ganzen Tag weht ein frischer Wind vom Wasser (welches auch hier nicht sonderlich warm ist, etwa wie die Ostsee in einem guten Sommer – ich hatte am 4. Juli nur kurz mal die Füße drin); einziger Kritikpunkt ist vielleicht, daß es abends etwas zu schnell kühl wird. Das liegt aber auch daran, daß dann die Bewässerungsanlagen alles mit kaltem Wasser überfluten. Durch die gute Luft macht das Radfahren auch an den Hauptstraßen Spaß, und dank des unvernünftigen Umgangs der hiesigen Autobauer mit Hubraum ist sogar das Zuhören an den Kreuzungen ein Lustgewinn. Überhaupt, wenn ich Autofetischist wäre, würde ich aus dem Sabbern nicht mehr rauskommen: freilaufende Mustangs, Broncos und Camaros, Stingrays, Thunderbirds und weiß die OPEC was noch…
Ein paar weitere Beobachtungen vom Leben in USA: neulich war ich in einem Billig-Supermarkt (wo hauptsächlich die Mexikaner einkaufen, die ganz klar finanzschwächer sind), da waren Verhütungsmittel in einem abgeschlossenen Schrank, aber Intimspray regalweise daneben – und gestern las ich in der Zeitung eine Anzeige auf Spanisch, in der u.a. für diskrete Abtreibung geworben wurde. Da kommt’s einem doch mal wieder hoch (zumal auch das AIDS-Problem hier sehr ernst zu nehmen ist); aber damit will ich nicht sagen, daß es solchen Schwachsinn in Deutschland nicht gäbe.
Zum Preisniveau allgemein ist zu sagen, daß man in der Tat etwa 1$ mit 1DM gleichsetzen kann; 5$ für ein Stück Käse, das stinkt einem schon… Ausnahme sind Motorräder. Ich habe ein paar Kleinanzeiger gewälzt und es zeigte sich, daß man etwa die gleichen Preise wie in Deutschland bezahlt, d.h. im Vergleich sind Bikes ziemlich billig. Leider sind Reiseenduros (damit hatte ich geliebäugelt) sehr selten, reine Motocross-Maschinen häufig, und normale 70er-Jahre-Straßenbikes sind gut vertreten und günstig. Nun hatte ich ja mal wieder Lust auf was Leichtes, aber diese 77er Goldwing (ohne Verkleidung, 4 Zylinder) reizt mich schon ein bißchen…na, Donnerstag kommt der neue „Recycler“, da will ich nochmal sehen. Erstmal habe ich noch für eine Woche das Mietauto, einen Dodge „Neon“, mittlere Größe, Automatikgetriebe, Servolenkung (heißt hier „power steering“) und Klimaanlage (die ich aber nie benutze), und ein Mords-Benzinverbrauch; nach 100 Meilen ist der Tank schon halbleer.
Überhaupt werden hier Energie und Rohstoff verschwendet wie bei uns zuletzt in den 70ern; dieser Kontinent hat noch viel zu bieten, bis er kaputt ist, und vorher ändert sich das Verhalten auch nicht, siehe Europa (wobei Europa wohl von der Natur mit besserer Regeneration gesegnet ist, sonst hätten die Indianer uns übernommen). Andererseits kaufen die Amis schlauerweise ihr Erdöl aus dem Ausland und bohren ihre eigenen Reserven noch nicht an – ist klar, life sucks without a car, wie es in einer zeitgenössischen Werbung heißt.
Da ich mich weigere, mir Stullen in Wegwerfbeuteln mitzunehmen, esse ich mittags zur Zeit noch im „Food Park“, abwechselnd beim Schnell-Sandwicher, -Mexikaner, -Chinesen und -Thai, aber – pleased to meet you, hope you guess my name – alles wird in Wegwerfschalen mit Plastikbesteck ausgegeben. Immerhin hab ich jetzt schon ein paar Tupper (heißt hier Rubbermaid)-Dosen aufgetrieben; fehlt nur noch vernünftiges Brot. Ach ja, und Beck’s kriegt man fast überall, aber Jever hab ich noch keins gesehen. Weil es hier so schwierig ist, Zigaretten zu bekommen, habe ich nebenbei auch mal wieder mit Rauchen aufgehört: war angesichts der sonstigen Umbrüche nicht schwierig.
Am Samstagabend war ich auf meiner ersten Party: Halloween in July; ich hatte am Samstag mit einem Mensa-Kontaktmenschen telephoniert und gleich den Tip bekommen, doch auf der Party aufzukreuzen. Es war wie auch in Deutschland unter Mensanern: unterhaltsam und anregend, nur daß man in Deutschland halt abends meist nicht so lange draußen sitzen kann. Etwas gestört hat mich an dem Gespräch über den neuen Mel Gibson-Film „The Patriot“, daß die Sklaverei nicht zur Sprache kam (Spike Lee hat den Film bereits wegen der sorgfältigen Umgehung dieses Themas gegeißelt), und auch, daß „Braveheart“ kommentarlos als guter Film durchging. Es scheint niemandem aufgefallen zu sein, daß das Grundmuster ist, daß Mel Gibson sich selber abfeiert, und zwar amerikanisch-platt.
Naja, man hat mich jedenfalls ermuntert, mich Anfang August auf der Mensa-Jahresmitgliederversammlung sehen zu lassen; es gibt also immerhin Gründe, die Wochenenden arbeitsfrei zu halten.
Sonntag war ich auf einem Flohmarkt (Beteiligung: im wesentlichen Hispanier, wie man hier sagt, Verhandlungssprache spanisch) und habe mir erstmal ein Fahrrad besorgt. Von Reifenservice und Fahrradreparatur bis zu Obst- und Gemüseständen gab es da wirklich alles, und siehe da, die Atmosphäre war gleich viel entspannter als im Shoppingzentrum (was auch daher kam, daß dieser Flohmarkt von Layout und Sitten her das Europäischste war, das ich bislang hier gesehen habe).
Was die schönen Frauen betrifft: ich finde, es lohnt sich nicht, sich auch nur nach einer umzudrehen – denn dann kriegt man die nächste ja nicht mehr von vorne zu sehen :-)) Aber ich bin ja nicht von gestern und habe auch gelegentlich mit der den Europäern eigenen Ungeniertheit die feilgebotene Damenwäsche inspiziert; es sind doch viele wattierte Teile dabei. Ich bitte, mir dies nicht als frauenfeindliche Sprüche auszulegen, schließlich bin nicht ich es, der die betreffende Nachfrage geschaffen hat, allenfalls sehr, sehr mittelbar. Auch möchte ich mich an dieser Stelle entschieden gegen rasierte Beine und lackierte Finger- und Zehennägel aussprechen.
Wenn ich bedenke, daß man dort, wo Jim wohnt, kaum seine nächsten Nachbarn kennt (und das „unsere Straße soll schöner werden“-Komitee den „freien“ Bürgern vorschreiben darf, wann sie die rostigen Scharniere an der Schuppentür zu tauschen haben – kein Witz jetz!) und diejenigen, die sich zum Einzug bei den Nachbarn vorstellen und Ferreros verteilen, auch noch schief ansieht (auch kein Witz, aber es war auch kein Weißer, der das getan hat), vergeht mir gleich wieder die Lust aufs Residieren in der Vorstadt; aber als ich neulich mal vom Weg abkam und durch ein etwas abgerissenes Viertel fuhr, wurde mir wieder wohler.
Also, ich denke, wenn ich hierbleiben sollte und wirklich frei leben und ein paar echte soziale Kontakte haben will, führt kein Weg daran vorbei, Spanisch zu lernen…
Aber das ist musica del futuro; fürs erste ging es auf dem Flohmarkt so: ich zeige auf ein Fahrrad und sage „mucho viejo“ und der Verkäufer nicht verlegen: „classico“. Also, ich habe jetzt für 35$ ein altes schwarzes Mountainbike (Marke Laguna, klingt toll wa?) mit Cantilever-Bremsen, Suntour-Schaltung, ausreichend Bodenfreiheit zum Bezwingen der imponierenden Bordsteine und einem brauchbaren Sattel gekauft; leider sind die Reifen so alt, daß die Flanken sich schon auflösen, also muß ich wenigstens einen neuen Hinterreifen besorgen. Das Rücklicht, das ich auch auf dem Flohmarkt gekauft habe (natürlich batteriebetrieben), hat 5 Lichteffekte: erst hab ich gedacht, macht ja nichts, aber man muß halt 5mal auf den Knopf drücken, bis das blöde Ding endlich aus ist! Aber wenn ich mich erstmal an den hiesigen Lebensstil gewöhnt habe, mache ich es eh nicht mehr aus…
Gestern habe ich nicht nur neue Reifen bekommen, sondern auch Gitarrensaiten, in einem richtig gut sortierten Notenladen. Dann hatte ich nach Bach-Noten für Laute gefragt, aber wir haben nicht gleich welche gefunden. Als ich dann aber in dem Lebensmittelladen nebenan rumlief, stand plötzlich der Musikspezi wieder vor mir und hatte doch welche gefunden. Ich war gerührt und nicht geschüttelt. Entweder der Laden kämpft wie wild ums Überleben, oder mir war was Untypisches passiert. Die allgemeine Stimmung ist nämlich eher, daß jeder sich nur um seinen eigenen Kram kümmert. Hähä, und an der Supermarktkasse hab ich den Einpackboy gezwungen, die Plastiktüten liegen zu lassen und die Sachen in meinen Rucksack zu packen – der hat etwas konsterniert geguckt und war ganz verwirrt, als das Baguette nicht reinpaßte, aber da habe ich dann auch gleich nach geschnappt.
Nächste Woche ist hier in Costa Mesa Jahrmarkt und Steppenwolf spielt auf der Open Air-Bühne, da will ich wohl hin. Und an der Uni sind ein paar Umsonst und Draußen-Konzerte, aber ich habe auch viel Arbeit und weiß noch nicht, ob ich da hin kann; Montag war ich bis halb zehn hier, business as usual…
Zum eventuellen Zimmerwechsel: die Mitwohnangebote hören sich alle sehr spießig an; keine Drogen, Zigaretten, Haustiere, kein Alkohol, Mietsicherheit…ich glaube, wenn ich will, kann ich auch bei Jim wohnen bleiben. Die meisten Angebote sind ohnehin nicht aus Überzeugung gemacht, sondern weil die Mieten hier sehr hoch sind: 400-500$ für ein Zimmer und 800-1000$ für eine Wohnung! Aber sobald (oder falls) ich ein Fahrzeug habe, werde ich mich nochmal intensiver drum kümmern. Das Mietauto habe ich noch für eine Woche, und die Firma zahlt; der Plan ist halt, mir das Auffinden eines eigenen Fahrzeugs zu ermöglichen. Das ohne Auto zu erledigen, hält man hier nicht für möglich.
Kneipen: weiß ich noch nicht; ich habe noch etwas Hemmungen, viel Geld auszugeben, ich will erstmal sehen, wieviel reinkommt. Aber bis dahin kann ich mich ja immer mit Arbeit unter Wasser halten.
Bis demnächst,
Jan